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Das Rätsel des Opfers
Erwachsenwerden als Aufgabe
Detlef Grumbach
Seine Phantasie, seine Gefühle und seine Spontaneität wurden dem jungen Physiker Frank Zweig schon in der Kindheit so gründlich abtrainiert, daß er geradewegs in die Katastrophe gehen mußte. Leidenschaftlich gerne hatte er Abenteuergeschichten geschrieben und diese stolz seinem Vater vorgelegt. Der stellte jedoch lakonisch "sprachliche Mängel" fest, und damit waren die kindlichen Ausbrüche aus dem Reich der Nützlichkeit beendet. Von diesem Moment an verlief Frank Zweigs Leben in den geordneten, vom Vater vorgezeichneten Bahnen; hinter den unsichtbaren Gittern eines streng rationalistischen Weltbilds bis zum "Freigang" - so der Titel des Romans - mit seinen ungeahnten Folgen.
Ulrich Woelk, der 30jährige Autor dieses erstaunlichen Debüts, ist selbst Physiker und bestens vertraut mit den Zwängen eines verengten Weltbilds. Es geht ihm um die Folgen der Deformationen, die junge Menschen in der Erziehung erleiden, es geht ihm aber auch um die mühseligen Versuche, sich aus dessen Gefängnis zu befreien. "Erwachsenwerden als Aufgabe von Eigeninteressen zugunsten eines Lebenswegs, neben dem es einen Sonderweg nicht gibt", analysiert Frank Zweigs Therapeut die Ausgangssituation - "Kunst als Synonym für Sonderweg, Kunst als maximale Ablenkung des Lebensgeschosses, Kunst also gleichbedeutend mit Absturz."
Zweig hat sich so vorbildlich in seinen Lebensweg eingefügt, hat seine Eigeninteressen so gründlich aufgegeben, daß er bei Studienbeginn bitter feststellen muß: "Ich nehme mein Leben mehr wahr, als daß ich es gestalte..." Und doch entwickelte sich die Veränderung der äußeren Lebensverhältnisse zu einem "Freigang" mit ungeahnten Risiken. Denn etwas Ungeheures muß passiert sein. Die Geschichte setzt mit einem Geständnis ein:, "Ich habe meinen Vater umgebracht. Die Idee kam im Suff. (Ich schwöre es.)" Zweig befindet sich nach einem völligen psychischen Zusammenbruch in einer psychiatrischen Klinik. Von dieser Situation aus entwickelt Ulrich Woelk Zweigs Versuche, wieder Herr der Situation zu werden, seine Lage zu verstehen. Aus Zweigs Perspektive, in kühl-analytischer Sprache und Denkweise, wird das Bemühen geschildert, Erinnerungen und Gegenwart zu einem Ganzen zu verweben, dessen innere Gesetzmäßigkeit aufzuspüren und auf diesem Weg wieder handlungsfähig zu werden. In scharfen Kontroversen, in einem zermürbenden Verteidigungskrieg mit dem Arzt analysiert Zweig dessen Versuche, ihm zu helfen, entwickelt er ausgeklügelte Abwehrversuche. Alles, was von Außen kommt wird als Störung, wenn nicht als Bedrohung empfunden.
Er will nicht therapiert werden, er verlangt ein ordentliches Gerichtsverfahren. Ein wichtiger Ansatzpunkt für die Therapie ist die Geschichte einer Liebe, die scheitern mußte und dadurch den Zusammenbruch ausgelöst hat. Zweig hatte sich auf seinem "Freigang" in die Studentin Nina verliebt. Ihre künstlerische Ader, ihre Spontaneität und die Bereitschaft, sich unbekümmert auf Dinge einzulassen, ohne deren Entwicklung vorher absehen zu können, locken ihn aus der Reserve. Sie bedroht seine nur mit viel Energie aufrechterhaltene Stabilität. Nina verkörpert aus seiner Sicht genau den Teil seiner Existenz, der verschüttet wurde, den "Sonderweg". Daß der Teil aber nur verschüttet wurde und nicht gänzlich abhanden gekommen ist, zeigt eine weitere Ebene des Textes. In gänzlich anderer, erzählender, lebendiger Sprache, schieben sich die Abenteuergeschichten der Kindheit in den Roman und werden am Schluß nach einem erneuten Zusammenbruch Zweigs in der Gegenwart aufgegriffen. Schreiben - Literatur und Kunst - darin liegt die Hoffnung Zweigs.
Der Versuch, elementare Lebensbedürfnisse bis zum Äußersten zu unterdrücken, gemäß der Erziehung gegen die eigene Natur zu handeln, ist bei Frank Zweig zwangsläufig gescheitert. Ulrich Woelk schildert die zerstörerische Potenz dieses Versuchs mit Spannung und geschickt entwickelter Situationskomik. Ob die Alternative, das in der Kindheit schon praktizierte, dann gewaltsam unterbrochene und mit zarter Hoffnung erneut begonnene Schreiben, jedoch eine reale Perspektive für Zweig ist, ob sie tatsächlich Freiheit statt lediglich "Freigang" beinhaltet, bleibt offen.